Hungerstreik und Fasten
Definition
Der Hungerstreik ist eine freiwillige Form der Nahrungsverweigerung einer urteilsfähigen Person, die frei von äusseren Zwängen eine Forderung durchsetzen will. Bei Inhaftierten handelt es sich bei der Forderung oft um eine Änderung der Haftsituation oder um einen Protest gegen eine Massnahme während der Haft. Der Hungerstreik ist keine eigentliche medizinische oder psychiatrische Diagnose, kann aber aufgrund der schädigenden Wirkung von längerem Nahrungs- und/oder Flüssigkeitskarenz zu medizinischen Problemen führen. Die Dauer und das Ausmass des Hungerstreiks können von der betroffenen Person jederzeit aktiv beeinflusst werden. Bei einem Defizit an Energie- und Proteinzufuhr greift der Körper auf seine eigenen Reserven zurück, um einen bestimmten Blutzuckerspiegel aufrechtzuerhalten. Zuerst verbraucht der Körper die Fettreserven, dann werden Muskel- und Organgewebe zur Energiegewinnung herangezogen. Auch Salz- und Vitaminmangel wirken sich negativ auf den Körper aus. 1
Klinik
Obwohl die klinischen Situationen selten schwerwiegend sind, wird häufig eine Spitaleinweisung in Betracht gezogen. Folglich stehen nicht nur die in Strafanstalten tätigen Ärzte, sondern auch die medizinischen Teams in den Spitälern vor Herausforderungen im Zusammenhang mit Hungerstreiks, die somatische, psychologische, rechtliche und menschenrechtliche Aspekte umfassen.
Ein Hungerstreik kann schwerwiegende gesundheitliche Komplikationen verursachen, die manchmal irreversibel sind oder sogar tödlich enden können, und erfordert einen besonderen medizinischen Ansatz. Das Auftreten von Komplikationen ist jedoch nicht unmittelbar. Die Zeitspanne bis zum Eintritt in eine Risikophase hängt in erster Linie von der Art des Fastens und vor allem davon ab, ob der Streikende zu Beginn in einem guten Gesundheitszustand war. Im Falle eines Hungerstreiks muss die inhaftierte Person vom Arzt objektive und wiederholt über die möglichen Risiken eines längeren Fastens informiert werden. 1,2
Prävalenz und Art des Fastens
Obwohl Hungerstreiks in Gefängnissen relativ häufig vorkommen, gibt es nur wenige Untersuchungen darüber. In Frankreich zählt man jährlich mehr als 1‘500 Fälle pro 100‘000 Insassen (1.5%). In Schweizer Strafanstalten geht man von einer ähnlichen Inzidenz von 1-3% inhaftierten Hungerstreikenden aus. 1,3
Art des Fastens |
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Absolut (keine Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr) | Total (nur Wasser; Verzicht auf alle Nahrungsmittel) | Partiell (nur einige Nährstoffe werden nicht genommen) |
Komplikationen
Grundsätzlich führt ein Hungerstreik bei einer normalgewichtigen Person nach durchschnittlich 50-75 Tagen zum Tod. Der durchschnittliche Gewichtsverlust liegt gemäss Literatur bei etwa 0.5 kg/Tag. In der ersten Woche ist der Gewichtsverlust aufgrund des Flüssigkeitsverlustes grösser, danach folgt ein langsamer, kontinuierlicher Gewichtsabbau. Medizinische Komplikationen sind potentiell ab einem Gewichtsverlust von 18% zu erwarten, und ab 30% besteht Lebensgefahr. Schwere Dyselektrolytämie wird in der Literatur bei längerem Hungerstreik erst nach 30 Tagen beschrieben. Die Einnahme von Mikronährstoffen (Elektrolyte, Vitamine, Mineralien und Spurenelemente) kann Folgeschäden entgegenwirken und das Überleben verlängern. Dies verhindert jedoch nicht die kontinuierliche Energieerschöpfung und den Tod. 2,3,4
Vorgehen bei Hungerstreik gemäss SAMW Richtlinien
Ärzte und Pflegefachpersonen, die im Gefängnis arbeiten, werden immer wieder mit hungerstreikenden Häftlingen konfrontiert. Der Hungerstreik ist als – oft letzte – Protestakt eines Menschen zu verstehen, der sich auf keine andere Weise Gehör verschaffen kann. Die hungerstreikende Person will nicht sterben; sie will vor allem, dass ihre Forderung gehört wird. Sie weiss, dass ein tödlicher Ausgang möglich ist, sobald die Situation zu einem unlösbaren Konflikt eskaliert.
Um die richtige Vorgehensweise zu bestimmen, ist es wichtig, die Ausgangssituation zu berücksichtigen:
- Die inhaftierte Person ist urteilsfähig, sie lehnt die künstliche Ernährung ab und es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr. Eine Zwangsernährung in dieser Situation wurde vom Europäischen Gerichtshof als Folter bezeichnet.
- Die inhaftierte Person ist urteilsfähig, sie lehnt die Zwangsernährung ab und eine Fortsetzung des Hungerstreiks bedeutet Lebensgefahr.
- Die inhaftierte Person ist durch den Hungerstreik urteilsunfähig geworden, hat die Ablehnung der künstlichen Ernährung in einer gültigen Patientenverfügung dokumentiert und der Verzicht darauf bedeutet unmittelbare Lebensgefahr.
- Die inhaftierte Person ist urteilsunfähig (infolge des Hungerstreiks oder aus anderen Gründen), es liegt keine gültige Patientenverfügung vor, die in dieser Situation eine künstliche Ernährung ablehnt, und der Verzicht auf künstliche Ernährung bedeutet unmittelbare Lebensgefahr.
Nur in der Situation 4 ist die künstliche Ernährung gemäss SAMW-Richtlinien medizinisch indiziert und kann in der Regel ohne Zwang durchgeführt werden. In den anderen beschriebenen Situationen würde sie den Richtlinien und den Regeln der ärztlichen Kunst wiedersprechen. 1
Empfehlungen für die medizinische Betreuung
Feststellen des Hungerstreiks (HS) |
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Ärztliche Erstkonsultation innerhalb von 24 Stunden
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Allgemeine Massnahmen
Medizinische Massnahmen
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Strafanstalt
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Strafanstalt
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Abbruch des HS geplant? | Hospitalisation | |
Hospitalisation | Abbruch HS | |
Hohes bis sehr hohes Refeeding-Syndrom-Risiko → Vorgehen gemäss Refeeding Kapitel |
Die empfohlene anfängliche Energiezufuhr basiert auf der Refeeding-Syndrom-Risikokategorie 3 (sehr hohes Risiko) und wird innerhalb von 10 Tagen schrittweise auf die volle Energiemenge erhöht. KG = Körpergewicht; d = Tag 5,6
Nährstoff | Täglicher Bedarf (pro kg KG) | |
---|---|---|
Energie | Tag 1-3 |
5
–
10
kcal |
Tag 4-6 |
10
–
20
kcal |
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Tag 7-9 |
20
–
30
kcal |
|
Tag ≥10 |
voller Bedarf |
|
Flüssigkeit | Zufuhr zur Erhaltung einer Nullbilanz: | |
Tag 1-3 |
25
–
25
mL |
|
Tag 4-6 |
25
–
30
mL |
|
Tag ≥7 |
30
–
35
mL |
Bitte füllen Sie das Gewicht aus
Nährstoffverteilung
40-60% Kohlenhydrate, 15-20% Proteine, 30-40% Fett
Natrium Bilanz
Salzrestriktion |
Na <1 mmol/kg KG/d |
Prophylaktische Verabreichung von Elektrolyten und Vitaminen
Die prophylaktische Verabreichung von Phosphat, Kalium, Magnesium und Thiamin bei Patient:innen mit einem sehr hohen Refeeding-Syndrom-Risiko ist wichtig, um die Gefahr von Komplikationen durch schwere Dyselektrolytämie oder Thiaminmangel zu vermeiden.
Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente
- Thiamin-Supplementation 200-300 mg oral oder i.v. mindestens 30 Minuten vor Beginn der Wiederernährung
- Tag 1-3: Thiamin 200-300 mg oral oder i.v.
- Tag 1-10: Multivitaminpräparat 2x täglich oral oder i.v. (d.h. wasser- und fettlösliche Vitamine zu 200% und Spurenelemente jeweils zu 100%)
Genügend und früher Elektrolytersatz
- Kalium 2-4 mmol/kg KG
- Phosphat 0.3-0.6 mmol/kg KG
- Magnesium 0.05-0.1 mmol/kg KG
- Kalzium 0.05-0.1 mmol/kg KG
Ziele der täglich angepassten Ernährungs- und Flüssigkeitstherapie
- Vermeidung von Dyselektrolythämien, Mangelzuständen, Salz- und Wasserüberlastung
- Vermeidung von Komplikationen, Morbidität und Mortalität
- Vermeidung von Mangelernährung/Nährstoffdefiziten
- Sukzessive Steigerung/Optimierung der Nahrungszufuhr
Da Zwangsmassnahmen nicht nur von den Patient:innen, sondern auch vom Pflegeteam als traumatisch empfunden werden können, sollte der Entscheid – wenn möglich – mit dem beteiligten Team (Ärzt:innen, Pflegefachpersonen und Sicherheitspersonal) diskutiert und von allen mitgetragen werden.
Die ernährungstherapeutischen Massnahmen entsprechen weitgehend den Empfehlungen für Patient:innen mit hohem Risiko für ein Refeeding-Syndrom (Link Refeeding Kapitel).
Monitoring
Monitoring von Patient:innen mit sehr hohem RFS-Risiko
Die meisten Studien zeigen, dass das RFS innerhalb der ersten 72 Stunden nach Beginn der Ernährungstherapie auftritt. In dieser Zeitspanne ändert sich die Stoffwechsellage von der Katabolie zur Anabolie, dabei werden Elektrolyt- sowie Flüssigkeitsverschiebungen beobachtet. Daher wird folgendes Monitoring vorgeschlagen:
Tag 1-3: Monitoring täglich |
Tag 4-5: Monitoring jeden 2. Tag |
Tag 7-10: Monitoring 1-2x pro Woche |
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Die Rolle des Psychiaters
- Es ist wichtig, den Patient:innen zu untersuchen, bevor es zu einer möglichen körperlichen und geistigen Verschlechterung aufgrund von längerem Fasten kommt.
- Die Hauptaufgabe des Psychiaters bei einem Hungerstreikenden ist es zu beurteilen, ob die Patient:innen urteilsfähig sind. Urteilsfähige Patient:innen sind als mündig zu betrachten und ihre Entscheidungen sollten respektiert werden. Wenn ein Hungerstreikender aufgrund einer psychischen Störung urteilsunfähig ist (z.B. Vergiftungswahns bei einer schizophrenen Störung), kann eine Zwangsmassnahme erforderlich sein. Eine angemessene Behandlung der psychischen Störung kann zu einem Ende des Hungerstreiks führen. Bei der Beurteilung der Urteilsfähigkeit sollten Zweck und Motivation des Hungerstreiks sowie individuelle und kulturelle Faktoren berücksichtigt werden.
Gesetzliche Grundlage Hungerstreik und Zwangsernährung
- Die rechtlichen Grundlagen dieser komplexen Situation sind in der Publikation von Müller et al. ausführlich beschrieben7. Im Straf- und Massnahmenvollzugsgesetz des Kantons Bern ist die Zwangsernährung zulässig, wenn eine schwerwiegende Gefahr für den Hungerstreikenden besteht und nicht davon ausgegangen werden kann, dass die betroffene Person aus freiem Willen handelt [Vgl. Art. 61 des bernischen Gesetzes über den Straf- und Massnahmenvollzug vom 25.6.2003 (SMVG, BSG 341.1)].
- In den meisten anderen Kantonen fehlt jedoch eine vergleichbare Rechtsgrundlage. Wo es keine gesetzliche Grundlage gibt, können die kantonalen Vollzugsbehörden gestützt auf die sogennante polizeiliche Generalklausel ausnahmsweise handeln, allerdings nur unter restriktiven Bedingungen.
- Gemäss SAMW-Richtlinien1 sollte eine inhaftierte Person im Hungerstreik innerhalb von 24 Stunden medizinisch beurteilt werden. Die psychiatrische Evaluation und Mitbetreuung durch die Psychiatrie muss von Anfang an gewährleistet sein.
- Die inhaftierte Person hat Anspruch auf eine Behandlung, die derjenigen der Allgemeinbevölkerung medizinisch gleichwertig ist. In jedem Fall muss die ärztliche Schweigepflicht nach denselben gesetzlichen Bestimmungen gewahrt werden, die für Personen in Freiheit gelten (Art. 321 StGB). Insbesondere müssen die Krankenakten unter ärztlicher Verantwortung aufbewahrt werden.
- Die grundlegenden ethischen und rechtlichen Bestimmungen für die Ausübung der ärztlichen Tätigkeiten, insbesondere die Vorschriften über Patienteneinverständnis und Schweigepflicht, gelten auch für Personen unter Freiheitsentzug.
- Vor der Hospitalisation einer Person im Hungerstreik sollte auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung hingewiesen werden. Nach den medizinisch-ethischen Richtlinien ist der Wille einer urteilsfähigen Person in Bezug auf die körperliche Integrität auch während einem Hungerstreik im Gefängnis zu respektieren.
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Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen. Verlag Gremper AG, Basel. 4. Auflage, Januar 2019. www.samw.ch/richtlinien
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Cahill GF Jr. Fuel metabolism in starvation. Annu Rev Nutr 2006;26:1-22. doi: 10.1146/annurev.nutr.26.061505.111258
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Gétaz L, Rieder JP, Nyffenegger L, Eytan A, Gaspoz JM, Wolff H. Hunger strike among detainees: guidance for good medical practice. Swiss Med Wkly 2012;142:w13675. doi:10.4414/smw.2012.13675
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Eichelberger M, Joray ML, Perrig M, Bodmer M, Stanga Z. Management of patients during hunger strike and refeeding phase. Nutrition 2014;30(11-12):1372-8. doi: 10.1016/j.nut.2014.04.007
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Müller M, Jenni C. Hungerstreik und Zwangsernährung. SAEZ 2011;92:8.
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World Health Organization. Health in prisons: A WHO guide to the essentials in prison health. Edited by: Møller L, Stöver H, Jürgens R, Alex Gatherer A, Nikogosian H. WHO 2007. ISBN 978 92 890 78209. http://www.euro.who.int/pubreuest
Autorenschaft:
Zeno Stanga, MD, Ernährungsmedizin, Inselspital Bern