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Kritisch Krank - Ernährungstherapie auf Intensivstation und Intermediate Care Unit

Die Ernährungstherapie kritisch kranker Patienten ist durch eine ausgeprägte Heterogenität bezüglich Ätiologie, Schweregrad und Phase der kritischen Erkrankung sowie (vorbestehende) Nebendiagnosen gekennzeichnet. Kritisch Kranke werden auf Intensivstationen, aber auch zunehmend auf Intermediate- Care-Stationen behandelt. Aus metabolischer Sicht sollten diese Patienten jedoch nicht per se systematisch getrennt werden, da jede kritische Erkrankung je nach  Schweregrad zu einer relevanten Stress- bzw. Entzündungsreaktion führt. 1-3 Diese Stressantwort spiegelt sich in den Phasen der kritischen Erkrankung wider:

  1. die akute Phase, die in eine Früh- und eine Spätphase unterteilt ist und früher als «ebb» und «flow-phase» beschrieben wurde
  2. die chronische Phase oder Rehabilitationsphase. 2

Die initiale Ebb-Phase ist durch eine hämodynamische und metabolische Instabilität gekennzeichnet, die sich in einer stark katabolen Stoffwechselsituation mit Hyperglykämie und peripherer Insulinresistenz äussert. 4 In der folgenden Flow-Phase kommt es zu einer Stabilisierung des Stoffwechsels, die mit einem erheblichen Verlust an Muskelmasse einhergeht. Nach der Akutphase führt die Spätphase mit Abklingen des Entzündungszustandes zu einem erhöhten Anabolismus und zum Eintritt in die Rehabilitationsphase 5 oder, wenn die Entzündung (Inflammation) und der Katabolismus fortbestehen, zu einem längeren Krankenhausaufenthalt (« Prolonged inflammatory and catabolic syndrome» (PICS). 2 Diese verschiedenen Phasen, die in unterschiedlichem Maße von den erwähnten katabolen Stoffwechselveränderungen geprägt sind, haben einen erheblichen Einfluss auf den Kalorien-  und Proteinbedarf bei kritisch Kranken. 2

Angesichts der Auswirkungen von Kalorien- und Proteindefiziten, aber auch von Überernährung auf Morbidität und Mortalität, wurde der Begriff Ernährungssupport in den letzten Jahren in «medizinische Ernährungstherapie» umbenannt. In diesem Sinne wurde die Relevanz, aber auch die Komplexität der Bewertung des Ernährungszustands mit einem hohen Anteil an Mangelernährung und sich ständig ändernden ernährungsmedizinischen Bedürfnissen erkannt und miteinbezogen. 2

Dennoch sind angesichts des aktuellen Forschungsstandes dringend weitere Studien erforderlich, um die Ernährungstherapie für kritisch Kranke an die heterogenen Bedürfnisse in Bezug auf Protein- und Kalorienziele, Zeitpunkt sowie Art und Weise der Ernährungsintervention weiter anzupassen und zu optimieren. 2

Screening und Nutritional status assessment

Ein hoher Anteil an kritisch kranken Patienten weist bei Eintritt eine Mangelernährung auf, und im weiteren Verlauf können zusätzliche Energie- und Proteindefizite hinzukommen (50% bzw. 60%). 6, 7 Patient:innen, mit einer Verweildauer >48 Stunden in der Intensiv- und Intermediate-Care-Pflege haben ein hohes Risiko für Mangelernährung. Ein Ernährungsscreening (Nutritional Risk Screening: NRS 2002) sollte bei Aufnahme durchgeführt werden, um mangelernährte Patient:innen frühzeitig zu identifizieren.

Neben dem NRS 2002 stehen weitere Screening Tools wie z.B. der «Nutrition Risk in the Critically Ill» (NUTRIC) Score, 8 der «Subjective Global Assessment» (SGA) Score 9 oder der «Mini-Nutrition Assessment»  (MNA) Score (short form or long form10 zur Verfügung. Keiner dieser Scores wurde jedoch bisher für kritisch kranke Patienten validiert bzw. keiner der Scores ermittelt diejenigen Patienten, die von einer intensivierten Ernährungstherapie profitieren würden. 11

Nährstoffbedarf von kritisch kranken Patient:innen. Anpassungen nötig für mangelernährte Patient:innen, körperliche Aktivität und Alter der Patient:innen. Als Gewicht gilt das Adjusted Body Weight (AjBWJ) ab BMI 28, ansonsten Körpergewicht vor Spitaleintritt. 3 KG = Körpergewicht; d = Tag

Nährstoff Täglicher Bedarf (pro kg KG)
Protein 1.3

g/kg KG/d 2

Energie Akutphase 20

kcal/kg KG/d 2

  Post-Akutphase 25

kcal/kg KG/d 2

Bitte füllen Sie das Gewicht aus

Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente

Die medizinische Ernährungstherapie von kritisch kranken Patienten beinhaltet neben den Makronährstoffen auch die adäquate Gabe von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen; vorzugsweise enteral bzw. ansonsten auf parenteralem Wege. 12

  • Die Abdeckung des Tagesbedarfes beinhaltet:
  1. Individuelle Defizite: Die Heterogenität der kritischen Erkrankung sowie auch vorbestehende Erkrankungen sollten bei der Schätzung des Tagesbedarfes berücksichtigt werden. Insbesondere sollte die Möglichkeit eines Refeeding-Syndroms bei kritisch Kranken bedacht werden. (Tabelle 6a) 12
  2. Therapie-assoziierte Defizite: Nierenersatzverfahren oder medikamentöse Therapien (z.B. Diuretika, Protonenpumpenhemmer, Metformin, Isoniazid, HIV-Therapie, Antiepileptika, Thymoglobulin u.a.) können ein erhöhtes Risiko für Defizite mit sich bringen. (Tabelle 6b) 12

 

Ziele der Ernährungstherapie

  • Aufrechterhaltung/Verbesserung des Ernährungszustandes und der Körperfunktionen
  • Vermeidung von Mangelernährung/Nährstoffdefiziten
  • Bestimmung des Energieziels ab Tag 3 durch indirekte Kalorimetrie
  • Progressive Steigerung/Optimierung der Nahrungszufuhr gemäss den Phasen der kritischen Erkrankung (ab Tag 4: 80-100% des Kalorienziels)
  • Vermeidung von Unter- und Überernährung
  • Metabolisches Monitoring, insbesondere des Blutzuckerspiegels
  • Verringerung von systemischer Entzündung und hypermetabolischem Stress

Energiebedarf

Es ist äußerst schwierig, den Energiebedarf schwerkranker Patienten zu bestimmen, da der Energieverbrauch von vielen Faktoren wie Grunderkrankung, Entzündungsstatus, Medikamenten, Körperzusammensetzung und Ernährungszustand bei Aufnahme abhängt und über die Zeit dynamisch ist. 13 Obwohl Vorhersageformeln zur Schätzung des Energiebedarfs im Rahmen der Ernährungstherapie weit verbreitet sind, haben viele Studien gezeigt, dass sie zu ungenau sind. 14-17 Zudem wurde noch keine für kritisch Kranke validiert. 2, 3 Bei Verwendung von prädiktiven Formeln sollte eine hypokalorische Ernährungstherapie (<70 % des geschätzten Energiebedarfs) der isokalorischen Ernährung in der 1. Woche auf der Intensivstation und der IMC vorgezogen werden, um eine Überernährung zu vermeiden. 2

Die indirekte Kalorimetrie (IK) zur Bestimmung des Energiebedarfs ist der empfohlene Standard. 18, 19 Darüber hinaus empfehlen die ESPEN-Leitlinien auch bei Nutzung der IK in der frühen Phase der akuten Erkrankung eine hypokalorische Ernährung schrittweise einzuführen und in der post-akuten Phase in eine isokalorische Ernährung überzugehen.

Die «International Multicentre Study Group for Indirect Calorimetry» (ICALIC) hat vor kurzem ein neues indirektes Kalorimetriesystem entwickelt, um den klinischen Anforderungen gerecht zu werden. 13 Die ICALIC-Studiengruppe empfiehlt IK-Messungen am 3. oder 4. Tag nach Aufnahme, die zu wiederholen sind, sobald sich der klinische Zustand ändert, oder mindestens einmal pro Woche und vor der Extubation. 67 Zur Optimierung des Ernährungsmanagements wird ausserdem empfohlen, die Energieziele an das Ergebnis der letzten IK-Messung anzupassen. 13

Proteinbedarf

Auf der Grundlage aktueller Studien und ohne die apparative bzw. labortechnische Möglichkeit, den individuellen Proteinbedarf während des Krankheitsverlaufs zu bestimmen, empfehlen die ESPEN-Leitlinien eine schrittweise Zufuhr von 1.3 g/kg/Tag Proteinäquivalent während einer kritischen Erkrankung. 2 Darüber hinaus wird eine frühzeitige Mobilisierung der Patienten in Kombination mit dem Erreichen von Proteinzielen vorgeschlagen, um die Muskelmasse zu erhalten. 2, 20

Nährstoffzufuhr: was, wann und wie

Die Art, die Menge und der Zeitpunkt der Nährstoffzufuhr wurden in den letzten Jahrzehnten umfassend diskutiert. Das Erreichen der Energie- und Proteinziele mit EN allein kann jedoch während des Aufenthalts auf der Intensivstation und der IMC-U schwierig sein und schliesslich bei den meisten Patienten zu Unterernährung führen. 21, 22 Neuere RCTs haben gezeigt, dass die Komplikationsrate unabhängig von der gewählten Ernährungsform nicht ansteigt 23, 24 und dass die Vermeidung von Unter- oder Überernährung wichtiger als die Art der gewählten Ernährungstherapie ist. 25, 26

Empfehlung der Ernährungstherapie bei kritisch Kranken gemäss internationalen Leitlinien 2, 3

Der Energie- und Proteinbedarf sollte, wenn immer möglich, durch

  1. Orale Ernährung gedeckt werden.
  2. Zur Deckung des Energie- und Proteinbedarfs können zusätzlich Nahrungsergänzungsmittel verabreicht werden. 27
  3. Eine frühzeitige enterale Ernährung (innerhalb von 48 Stunden) wird für alle kritisch Kranken mit einem funktionierenden Verdauungstrakt und unzureichender oraler Ernährung empfohlen.
  4. Bei Patienten, die eine zielgerichtete enterale Ernährung in der ersten Woche nicht tolerieren, sollte eine zusätzliche parenterale Ernährung in Betracht gezogen, aber erst dann begonnen werden, wenn alle Strategien zur besseren Verträglichkeit der enteralen Zufuhr versucht worden sind.
  5. Wenn eine orale Ernährung nicht möglich ist und Kontraindikationen für eine enterale Ernährung bestehen, sollte die parenterale Ernährung beim kritischen Kranken auch schrittweise in der ersten Woche begonnen werden.

Orale Ernährung

Eine protein- und energieangereicherte Ernährung hilft, den Ernährungszustand zu verbessern. Wenn möglich, sollte eine Ernährungsberatung während der gesamten Behandlung von kritisch Kranken in die Ernährungstherapie integriert werden, um einerseits die Nahrungszufuhr zu optimieren und andererseits das Auftreten von Komplikationen zu verhindern.

Praktische Hinweise (falls indiziert)

  • Bei Mundtrockenheit: Geeignete Mundsprays zum Befeuchten empfehlen. Konsistenz der Kost anpassen (gemixt, feingeschnitten, extra Sauce). Auf eine bedarfsdeckende Flüssigkeitszufuhr achten.
  • Dysphagiescreening bei Schluckstörungen und ggf. Anpassung der Kostform per os.
  • Nahrungsergänzungsmittel zur besseren Energie- und Proteinabdeckung. Orale Nahrungsergänzung maximal 2-3x pro Tag, nach den Mahlzeiten (gekühlt mit Strohhalm servieren), Proteinanreicherung von Speisen und Getränken mittels Proteinpulver
  • Optimierung der oralen Nahrungsaufnahme durch Abschirmung der Patient:innen und Sicherstellung der Essenszeiten, Einbeziehung von Lieblingsspeisen, Involvierung von Angehörigen oder ggf. Unterstützung bei der peroralen Nahrungsaufnahme

Enterale Ernährung

Eine enterale Ernährung hilft, den Ernährungsstatus auch dann aufrecht zu halten, wenn Patient:innen nicht mehr in der Lage sind, ausreichend  Nahrung  oral zu sich zu nehmen. Häufig handelt es sich dabei um Patienten in kritischem Zustand, bei denen eine orale Nahrungsaufnahme aufgrund der Schwere der Erkrankung zum Zeitpunkt der Aufnahme und des Sedierungszustands in der Regel nicht möglich ist. Zur Verabreichung der enteralen Ernährung werden Nasensonden empfohlen (nasogastral oder nasojejunal).

Zwei große randomisierte Studien, die speziell den Ernährungsweg bei kritisch kranken Patienten untersuchten, 23, 24 zeigten bei der enteralen Ernährung im Vergleich zur parenteralen Ernährung eine höhere Anzahl von Hypoglykämien, Erbrechen und gastrointestinalen Komplikationen (z.B. Diarrhö, Darmischämie, akute Kolonpseudoobstruktion). Außerdem war es bei beatmeten Intensivpatienten schwieriger, das Protein- und Kalorienziel zu erreichen. 23

Während einer enteralen Ernährung wird empfohlen, nach der Extubation ein Dysphagiescreening durchzuführen und ggf. eine entsprechende Therapie einzuleiten, bevor eine orale Ernährung in die Therapie integriert wird.

Parenterale Ernährung

Eine parenterale Ernährung wird eingesetzt, wenn die orale und/oder enterale Ernährung den Energie- und Proteinbedarf nicht (mehr) ausreichend abdeckt. Sie kann den Ernährungsstatus bei unzureichender enteraler Ernährung und bei intestinalem Versagen aufrechterhalten oder verbessern.

Typische Indikationen sind Erbrechen und Regurgitation mit erhöhtem Aspirationsrisiko, anhaltender Schockzustand mit splanchnischer Hypoperfusion, Ileus, schwere Malabsorption, Darmischämie, persistierende Diarrhöe, chronische Obstruktion und Kurzdarmsyndrom.

Der Zeitpunkt für den Beginn einer parenteralen Ernährung ist ein sehr umstrittenes Thema. ESPEN-Experten empfehlen eine frühzeitige Einleitung der parenteralen Ernährung (innerhalb von 3-7 Tagen) im Falle von Kontraindikationen einer oralen oder enteralen Ernährung. Eine supplementierende parenterale Ernährung (SPN) sollte in Betracht gezogen werden, wenn die enterale Zufuhr nicht in vollem Umfang während der ersten Woche des Aufenthalts auf der Intensivstation/IMC-U toleriert wird. 2

Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von PN sind mechanische Komplikationen (z.B. Katheterobstruktion/-infektion, Venenthrombose oder Pneumothorax) 28 und kurzfristige metabolische Komplikationen wie z. B. ein Flüssigkeitsungleichgewicht, Elektrolytstörungen, Blutzuckerabweichungen und Dyslipidämie. 29 Diese Komplikationen können durch systematische und engmaschige Überwachung vermieden werden. 29 Hepatobiliäre Störungen wurden hauptsächlich auf Überernährung während der parenteralen Ernährung zurückgeführt. 28, 30

Over- und Underfeeding

Bei kritisch Kranken kommt es häufig zu Über- und Unterernährung, da die Ernährungssubstrate, egal ob parenteral oder enteral verabreicht, bei schwerkranken Patienten nicht die gleichen metabolischen Folgen haben. Unterernährung kommt bei enteral ernährten Patienten häufiger vor, während bei parenteral ernährten Patienten die Überernährung überwiegt. Das größte Risiko für eine zu niedrige oder zu hohe Energiezufuhr besteht bei Patienten mit niedrigen Kalorienzielen (z.B. aufgrund einer geringen Körpergröße, einer nicht nutritiven Energiezufuhr (z. B. Propofol® zur Sedierung) oder bei geriatrischen Patienten). 31 Überernährung ist definiert als die Zufuhr von zu viel Energie (>110 % des Energiebedarfs) 2 und kann abhängig von den übermässig zugeführten Makronährstoffen zu einer Vielzahl von Komplikationen (Hyperkapnie, Refeeding-Syndrom, Lebererkrankungen, Hyperglykämie, Hypertriglyzeridämie, Azotämie, hypertone Dehydratation und metabolische Azidose) sowie zu einer erhöhten Mortalität führen. 32 Die Untergrenze der optimalen Energiezufuhr für kritisch Kranke ist noch nicht eindeutig definiert. Sie kann je nach zu Grunde liegender Erkrankung und Ernährungsstatus des Patienten variieren. Unterernährung (<70 % des definierten Zielwertes) 2 tritt häufig bei Intoleranz gegenüber enteraler Ernährung, Atemwegsmanagement oder einer Unterbrechung der Nahrungsaufnahme aufgrund einer elektiven Operation auf. 33

Monitoring

  • Wiederholte Messung des Energiebedarfs mittels indirekter Kalorimetrie (siehe Ernährungstherapeutische Massnahmen)
  • In der akuten Phase der kritischen Erkrankung kommt es im Rahmen der Inflammation zu einer Verschiebung von Mikronährstoffen aus dem Plasma in die verschiedenen Kompartimente, so dass Messungen in diesem Zeitbereich eine begrenzte Aussagekraft über die Gesamtkörperspeicher haben. Bei einem längeren Intensivaufenthalt (>7 Tage) sollten Zink, Kupfer, Eisenstatus, Folsäure, Vitamin B12 und Vitamin D gemessen und ggf. substituiert werden (modifiziert nach 12). Bei einem längeren Krankheitsverlauf ist eine erneute Messung erst wieder nach 6 Monaten angezeigt.
  • Bei parenteraler Ernährung sollten die Triglyzeride sowie die Leberwerte 1-2x/Woche gemessen werden.
  • Bei langanhaltender Katabolie (ab ca. 5 Tagen) sollte die künstliche Ernährung (enteral, parenteral), falls indiziert, langsam über mehrere Tage gesteigert und die folgenden Parameter überwacht werden (CAVE Refeeding-Syndrom):
    • Phosphat <0.6 mmol/L oder Abfall <30% unter den Normwert oder
    • Zwei oder mehr andere Elektrolyte unter dem Normwert:
      • Phosphat <0.8 mmol/L
      • Kalium <3.5 mmol/L
      • Magnesium <0.75 mmol/L

Besonderheiten klinische Ernährung für kritisch Kranke

Refeeding-Syndrom

Das Refeeding-Syndrom ist ein potenziell lebensbedrohlicher Zustand, der als metabolische Antwort während des Wechsels von Katabolie zu Anabolie (Wiederaufnahme der Nährstoffzufuhr) bei mangelernährten Patienten auftreten kann. Aufgrund von Elektrolytstörungen (insbesondere Hypophosphatämie, Hypokaliämie und Hypomagnesiämie) und Flüssigkeitsverschiebungen kann es hierbei zu Kreislauf-, respiratorischen, hämatologischen und neuromuskulären Symptomen kommen. Jedoch behindert eine bis anhin fehlende, klare Definition des Syndroms sowohl ein evidenzbasiertes Screening wie auch entsprechende Therapieempfehlungen. In diesem Sinne sollte bei Wiederaufnahme der Nährstoffzufuhr bei jedem kritisch kranken Patienten (und insbesondere bei Risikogruppen wie Anorexia nervosa, Alkoholkrankheit, geriatrische oder adipöse Patienten, Zeichen einer chronischen Mangelernährung) ein potenziell mögliches Refeeding-Syndrom in Betracht gezogen werden. Die Ernährungstherapie sollte individualisiert nach Korrektur bzw. unter ständiger Kontrolle der Elektrolyte durchgeführt werden 34, 35:

  1. Die initiale  Kalorienzufuhr sollte für mindestens zwei Tage auf 20kcal/h begrenzt werden
  2. Sobald Phosphat nicht mehr substituiert werden muss, kann die Kalorienzufuhr innerhalb von 2-3 Tagen schrittweise auf den Zielwert erhöht werden
  3. 40 kcal/h für 24 Stunden, dann Erhöhung auf 60 kcal/h für weitere 24 Stunden, gefolgt von 80% der berechneten oder gemessenen Kalorienmenge für 24 Stunden, mit schliesslich 100% der Zielmenge ab Tag 4. 36

Adipositas/Bariatrie

Angesichts der steigenden Zahl an bariatrischen Eingriffen ist bei 30% dieser Patienten mit metabolischen Komplikationen zu rechnen. 37 Zudem nimmt die Zahl der kritisch Kranken mit Adipositas zu. Bei der Erhebung ihres Ernährungsstatus sollte ein besonderes Augenmerk auf Biomarker für das metabolische Syndrom, Komorbiditäten, Sarkopenie und den chronischen Entzündungszustand gelegt werden. 3 Zur Erfassung des Energiebedarfes bei adipösen kritisch Kranken wird die indirekte Kalorimetrie (IK) empfohlen. Ansonsten kann auf prädiktive Scores wie der Mifflin-St Jeor (MSJ) oder Harris-Benedict zurückgegriffen werden. 1 Die neusten ESPEN Leitlinien empfehlen eine progressiv aufbauende, isokalorische, hochproteinhaltige Ernährung mit einem Proteinziel von 1.3 g/kg «adjusted bodyweight» pro Tag. 2 Um einen Mikronährstoffmangel nach einem bariatrischen Eingriff zu vermeiden, sollte lebenslang ein Multivitaminpräparat und ggf. eine intravenöse Eisensubstitution verordnet werden.

Geriatrische Patienten

Patienten über 65 Jahre machen einen großen Teil der kritisch Kranken aus und weisen häufig bereits bei der Aufnahme oder schon vorher einen Mangelernährungszustand auf. Neben der akuten kritischen Erkrankung führt dies zu einem signifikant höheren Risiko von Komplikationen. 38 Die Erhebung eines «Frailty Scores» zur Feststellung der Gebrechlichkeit kann eine hilfreiche Ergänzung zum Screening auf Mangelernährung sein. 39 Häufig leiden geriatrische Patienten zusätzlich an einer Sarkopenie, Kau- und Schluckschwierigkeiten, und auch Medikamentennebenwirkungen können die Ernährungstherapie erschweren. Die ESPEN Leitlinien für geriatrische Patienten empfehlen 1.2-1.5 g Protein/kg Körpergewicht/Tag. Bei kritischen akuten Erkrankungen sind sogar höhere Zielwerte anzustreben und eine begleitende physiotherapeutische Mobilisierung mit anschliessender Rehabilitation ist zwingend angezeigt. 40, 41

Ein Vitamin D-Mangel wird bei sowohl bei geriatrischen wie auch kritisch kranken Patienten häufig vorgefunden und ist mit einem schlechteren Outcome verbunden. Gemäss den ESPEN Leitlinien sollte Vitamin D in der ersten Woche auf der Intensivstation als Einzeldosis von 500’000 IU verabreicht werden, wenn der Vitamin-D-Spiegel (25-hydrocy Vitamin D) <12.5 ng/ml oder < 50 nmol/l ist. 2

Chronisch kritisch Kranke

Mit der Weiterentwicklung der Intensivmedizin ist eine neue Patientengruppe entstanden: die chronisch kritisch Kranken. Der Ernährungssupport für diese Patienten bedarf einer individualisierten, hoch-protein-reichen Ernährung, die möglichst per os oder enteral verabreicht werden sollte, einer ausgeglichenen Flüssigkeitsbilanz, einer neuroendokrin/metabolischen Kontrolle und der Einstellung des Blutzuckerspiegels und der Schilddrüsenfunktion sowie eines intensiven Mobilisierungs- und Bewegungsprogramms. 1, 3

Weitere Subgruppen von kritisch Kranken

Patienten mit Niereninsuffizienz bzw. Nierenersatzverfahren können mit Standard-Ernährungslösungen ernährt werden. Im Falle eines Volumenplus oder Elektrolytproblemen kann auf ein Spezialprodukt umgestellt werden. Bei einem Nierenersatzverfahren sollte die Zielmenge für Protein noch höher angesetzt (<2.5 g/kg KG/Tag) und auch die Substitution von Mikronährstoffen sollte erhöht werden. 2, 3 Es muss betont werden, dass bei einer schweren Niereninsuffizienz die berechnete Proteinmenge nicht aufgrund eines hohen Harnstoffs reduziert werden sollte, um den Beginn des Nierenersatzverfahrens hinauszuzögern. 3

Patienten mit chronischem Alkoholabusus haben ein besonders hohes Risiko für einen Thiaminmangel, ebenso wie Patienten mit schwerer Sepsis, Herzinsuffizienz oder Verbrennungen. 42 Die empfohlene Thiamindosis wird mit bis zu 500mg/d angegeben 42 in Verbindung mit einer Korrektur möglicher Elektrolytstörungen und Mangelernährung. 43

Für Patienten mit schweren Verbrennungen 44 oder Leberversagen 43 wurden separate ESPEN Leitlinien publiziert.

Ernährung und Physiotherapie

Erhalt/Wiederaufbau von Muskelmasse und körperlichen Funktionen sowie Unterstützung des Stoffwechsels durch regelmäßige körperliche Aktivität mit Hilfe von Physiotherapeuten (individuell angepasstes Ausdauer- und Widerstandstraining) gehen mit der Ernährungstherapie Hand in Hand. 1

Einbezug Ernährungstherapeut:innen

Obwohl Ernährungsrichtlinien und hausinterne Anweisungen für die Standardisierung der medizinischen Ernährungstherapie unabdingbar sind, ist die Unterstützung durch die Ernährungstherapeutinnen und –therapeuten von erheblicher Bedeutung und führt zu einem besseren, interdisziplinären Management der Ernährungstherapie von kritisch Kranken. 1

Verlegung auf Normalabteilung oder Entlassung

Die medizinische Ernährungstherapie muss bei einer Verlegung oder Entlassung weitergeführt bzw. an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Ein  Großteil  von intensivmedizinisch betreuten Patienten benötigt einen mittel- bis langfristigen Ernährungssupport, um die Protein- und Energieziele nach der Verlegung zu erreichen. 13, 45 Hierbei sollte neben dem physischen Status eines Patienten auch sein neurologischer Zustand und dessen mögliche Auswirkungen auf die Nahrungsaufnahme berücksichtigt werden. 46 Der Patient sowie seine Angehörigen  und betreuende Personen sollten in ernährungs-spezifischen Aspekten geschult werden. 46

 Medikamente/Supplemente

  • Antiemetika gegen Nausea/Erbrechen
  • Hemmstoffe der Magensäuresekretion und andere Substanzen zum Schutz vor symptomatischen Schleimhautläsionen oder Ösophagusreflux
  • Mittel zur Aufrechterhaltung oder Normalisierung der Darmmotilität und zur Behandlung/Vermeidung von Obstipation oder Diarrhöe
  • Antisekretorische Mittel zur Verringerung der übermässigen Speichelproduktion oder des Erbrechens bei gestörtem Darmtransport
  • Prokinetika bei starkem gastrointestinalem Reflux
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Autorenschaft:

Andrea Kopp Lugli, MD, Anästhesie & Intensivmedizin, Kantonsspital Baden
Claudia Heidegger, MD, Akutmedizin, Hôpitaux Universitaire Genève

Information NutriGo

Anwendungsorientierte praktische Empfehlungen für die Ernährungstherapie in verschiedenen klinischen Situationen basierend auf aktuellen Richtlinien

Die Behandlung einer Mangelernährung ist ein zentraler Bestandteil in der intial- und fortführenden Therapie von Spitalpatientinnen und -patienten, um die Körperfunktion und Lebensqualität zu erhalten/verbessern und das Komplikationsrisiko bis zur Mortalität zu reduzieren. Die Therapie sollte der zugrundeliegenden Krankheit angepasst werden. NutriGo fasst die Behandlungsstrategien für verschiedene klinische Situationen zusammen und gibt praktische Hinweise zur Umsetzung.

Die Empfehlungen basieren auf den anerkannten aktuellen Richtlinien der jeweiligen klinischen Situation. Durch Eingabe des Körpergewichtes der Patientinnen und Patienten kann der Mikro- und Makronährstoffbedarf anhand einer einfachen Multiplikation berechnet werden, falls der Bedarf in den entsprechenden Richtlinien präzisiert ist. Zusätzliche Anpassungen sind erforderlich für Patientinnen und Patienten mit einem erhöhten BMI (>28 kg/m2), Aszites, Untergewicht, erhöhtem Alter und gesteigerter/reduzierter körperlicher Aktivität.

Abkürzungsverzeichnis

BMI  Body Mass Index