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Onkologie

Definition

Der Begriff «Onkologische Erkrankungen» umfasst multifaktoriell bedingte bösartige Transformationen von Zellen. Die Gruppe der betroffenen Patient:innen ist sehr heterogen und beinhaltet Personen in unterschiedlichen Krankheitsstadien und -phasen sowie mit verschiedenen Komorbiditäten und Therapien. Eine Mangelernährung tritt bei onkologischen Patient:innen häufig auf und führt zu einer mangelernährungsbedingten Mortalität von rund 20% [1-3]. Die Mangelernährung kann dabei durch den Tumor selbst und/oder durch Behandlungsmassnahmen begünstigt werden. Eine frühzeitige und adäquate Ernährungstherapie sollte deshalb zwingend in multimodalen onkologischen Therapiekonzepten integriert werden.

Auswirkungen auf Stoffwechsel und Ernährungszustand

Das Zusammenspiel vieler Faktoren führt zu Anorexie, Gewichtsverlust (Kachexie), Hypermetabolismus und verringerten anabolen Reizen (z.B. körperliche Aktivität) [1-3]. Das Anorexie-Kachexie-Syndrom ist charakterisiert durch eine katabole Stoffwechsellage mit gestörten neuro-humoralen Regelkreisen auf der Basis eines chronisch-entzündlichen Zustandes. Es entstehen Veränderungen besonders im Energieumsatz, sowie im Kohlenhydrat-, Fett- und Proteinstoffmetabolismus. Die Veränderungen ähneln einer Insulinresistenz und führen zu einer negativen Fett- und Proteinbilanz. Aufgrund dieser metabolischen Veränderungen ist die tumor-assoziierte Mangelernährung oft nur bedingt reversibel. Die Verschlechterung des Ernährungszustandes ist unabhängig assoziiert mit schlechterer Prognose, erhöhter Therapietoxizität (Ab- oder Unterbrüche) und reduzierter Lebensqualität [1,4,5].

Nährstoffbedarf von onkologischen Patient:innen. KG = Körpergewicht; d = Tag

Nährstoff Täglicher Bedarf (pro kg KG)
Protein 1.2 1.5

* g/d [1,3,6,7]

  bei ausgeprägter Entzündung 2

* g/d [6]

Energie 25 30

kcal/d [6]

Flüssigkeit Frei/Gemäss ärztl. Verordnung

Bitte füllen Sie das Gewicht aus

*CAVE Niereninsuffizienz: tiefere Proteinmengen verabreichen (Verlinkung Nierenkapitel)

Bei Insulinresistenz in Kombination mit Gewichtsverlust sollte die Energie aus Fett erhöht und die Energie aus Kohlenhydraten reduziert werden. Dadurch ergibt sich eine sowohl höhere Energiedichte als auch verringerte glykämische Last (Krebszellen haben aufgrund ihrer hohen Zellteilungsrate einen besonders hohen Energiebedarf, welchen sie vor allem mit Glukose decken).

Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente

  • Abdeckung Tagesbedarf Vitamine und Mineralien nach DACH-Empfehlungen
    • Hochdosierte Supplementierung von Mikronährstoffe nur bei spezifischen Mangel

Ziele der Ernährungstherapie

  • Aufrechterhaltung/Verbesserung des Ernährungszustandes sowie der Körperfunktionen
  • Vermeidung von Mangelernährung/Nährstoffdefiziten
  • Steigerung/Optimierung der Nahrungszufuhr
  • Verringerung von systemischer Entzündung und hypermetabolischem Stress

Eine frühzeitige Ernährungstherapie spielt eine zentrale Rolle in der Erhaltung oder Verbesserung des Ernährungszustandes. Das Ernährungsscreening (Nutritional Risk Screening: NRS 2002 oder PG-SGA) sollte ebenfalls so früh wie möglich (bei Diagnosestellung, bei neuen klinischen Gegebenheiten [z.B. Tumorprogredienz] oder Aufnahme einer neuen Therapie) und mindestens zwei Mal im Jahr durchgeführt werden, um mangelernährte Patient:innen zu identifizieren. Jede Institution sollte definierte Standards in der Erfassung der Mangelernährung implementieren. Die interdisziplinären Abläufe und Verantwortlichkeiten sowie Qualitätskontrollen sollten klar definiert und in Protokollen/Algorithmen festgehalten sein. Personen, welche einen kurativen oder palliativen Eingriff vor sich haben, sollten nach dem ERAS Konzept behandelt werden (siehe Details unten).

Der Energie- und Proteinbedarf sollte, wann immer möglich, mit oraler Ernährung gedeckt werden. Falls mit Anreicherung, Zwischenmahlzeiten oder Trinknahrungen weniger als 75% des Bedarfs gedeckt werden kann, sollte nach spätestens 5 Tagen auf eine ergänzende enterale Ernährung eskaliert werden. Eine komplementäre parenterale Ernährung ist indiziert, wenn über einen Zeitraum von 10 Tagen weniger als 75% des Bedarfes durch orale und/oder enterale Ernährung gedeckt werden kann.

Zudem sollte die Form der Ernährungstherapie der Patientensituation, dem Appetit, der Krebsart und ‑stadium und den Behandlungsmassnahmen in Abhängigkeit von der Therapiedauer und -ziel angepasst werden. Bei chirurgischen onkologischen Patient:innen mit Mangelernährungsrisiko oder manifester Mangelernährung wird eine ambulante Ernährungstherapie empfohlen. Theoretische Argumente, dass Nährstoffe "den Tumor ernähren" sind nicht auf klinische Studienergebnisse gestützt und die Ernährungszufuhr sollte daher nicht reduziert werden [1-3].

Orale Ernährung

Eine protein- und energieangereicherte Ernährung hilft, den Ernährungszustand zu verbessern. Eine Ernährungsberatung sollte nach Möglichkeit zu Beginn der Ernährungstherapie integriert werden, um ernährungsbezogene Symptome anzugehen und die Nahrungszufuhr zu optimieren. Entscheidende Bestandteile der Ernährungsberatung sind: (i) Gründe und Ziele der Ernährungsempfehlungen zu vermitteln und (ii) die Patient:innen zur Umsetzung der Empfehlungen zu motivieren [1-3].

Praktische Hinweise, falls indiziert

  • Bei Geschmacksstörungen: Auf individuelles Empfinden der Person eingehen. Menübestellung gut besprechen und Alternativen aufzeigen. Trinknahrung mit neutralen Aroma anbieten.
  • Bei Aversion gegenüber Fleisch: Vegetarische Alternativen empfehlen.
  • Bei Appetitlosigkeit: Angereicherte Speisen (z.B. Suppe, Frappés, Birchermüesli) aus dem Menüwahlsystem anbieten. Lebensmittel zur selbständigen Anreicherung durch die Patient:innen bestellen: Butter, Schlagrahm, Sauce extra. Portionengrösse verkleinern und mehrere Mahlzeiten verteilt über den Tag anbieten. (Schema Anreicherung PDF)
  • Bei Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen: Speisegerüche durch gutes Lüften minimieren; ggf. warme durch kalte Speisen ersetzen.
  • Bei Mundtrockenheit: Speichelfluss durch Kaugummi oder Bonbons anregen. Konsistenz der Kost anpassen (gemixt, feingeschnitten, extra Sauce). Geeignete Mundsprays zum Befeuchten empfehlen. Auf eine bedarfsdeckende Flüssigkeitszufuhr achten.
  • Immunonutrition (oder auch immunmodulierende Ernährung): Empfohlen zur perioperativen Versorgung bei Patient:innen mit Tumoren des oberen gastrointestinalen Traktes. Immunonutrition = flüssige orale oder enterale Ernährungssupplemente mit spezifischen Nährstoffen. Die Funktion der einzelnen Bestandteile muss noch geklärt werden.

Enterale Ernährung

Eine enterale Ernährung (ggf. heimenterale Ernährung) hilft, den Ernährungsstatus auch dann aufrecht zu halten, wenn Patient:innen nicht mehr genügend Nahrung per oral zu sich nehmen können. Dies betrifft onkologische Patient:innen mit einer Beeinträchtigung der oralen Aufnahme oder mit Problemen beim Nahrungstransport im oberen Gastrointestinaltrakt (obstruktive HNO/Thorax-Tumore). Zur enteralen Ernährung gibt es zwei empfohlene Optionen: nasale Sonden (nasogastral, nasojejunal) sowie perkutane Sonden (PEG, PRG, PEG/J, Witzel Fistel, Button). Die Wahl der geeigneten Sonde muss dabei nach einer Nutzen- und Risikenanalyse erfolgen, bei der die individuelle Patientensituation und -bedürfnisse zu beachten sind. Häufig bevorzugen Patient:innen eine PEG Sonde gegenüber einer nasalen Sonde. Vor der PEG Einlage solle je nach Situation die Toleranz der Sondenkost mit einer nasojejunalen Sonde getestet werden.
Als begleitende Behandlung wird während der enteralen Ernährung ein Dysphagiescreening und ggf. eine entsprechende Therapie empfohlen. Wichtig ist, die Patient:innen zu schulen und zu motivieren, ihre Schluckfunktion mit geeigneten Übungen zu erhalten.

Parenterale Ernährung

Eine parenterale Ernährung (ggf. heimparenterale Ernährung) wird eingesetzt, wenn die orale und/oder enterale Ernährung den Energie- und Proteinbedarf nicht mehr ausreichend abdeckt. Sie kann den Ernährungsstatus bei schwerem intestinalen Versagen aufrechterhalten oder verbessern.
Typische Indikationen sind schwere Mukositis, hartnäckiges Erbrechen, Ileus, schwere Malabsorption, langwierige Diarrhöe, symptomatische gastrointestinale Graft-versus-Host-Krankheit, Strahlenenteritis, chronische Obstruktion, Kurzdarmsyndrom, Peritonealkarzinose oder Chylothorax/chylöser Aszites.

Monitoring

Bei langanhaltender Katabolie (ab ca. 5 Tagen) sollte bei Indikation die künstliche Ernährung (enteral, parenteral) langsam über mehrere Tage gesteigert werden und folgende Parameter sollten monitorisiert werden (CAVE Refeeding-Syndrom):

  • Phosphat <0.6 mmol/L oder Abfall <30% unter dem Normwert

       oder

  • Zwei oder mehr andere Elektrolyten unter dem Normwert:
    • Phosphat <0.8 mmol/L
    • Kalium <3.5 mmol/L
    • Magnesium <0.75 mmol/L

Besonderes

  • Muskelmasse und körperliche Funktionen erhalten/aufbauen sowie Stoffwechsel unterstützen durch regelmässige körperliche Aktivität (individuell angepasstes Ausdauer- und Wiederstandtraining).
  • Bei fortgeschrittener Erkrankung: Ernährungsmassnahmen gemeinsam mit den Patient:innen anhand der Prognose, dem Nutzen und der zu erwartenden Belastung festlegen.
  • Bei terminalen Personen: Behandlung auf das Wohlbefinden ausrichten. Bei akuten Verwirrtheitszuständen: kurze und begrenzte Flüssigkeitszufuhr, um Dehydratation als auslösende Ursache auszuschliessen.

Medikamente/Supplemente

  • Antiemetika gegen Nausea/Erbrechen
  • Antimikrobiotika gegen mykotische/bakterielle/virale Infekte
  • Analgetika gegen chronischen Schmerzen oder Schmerzen assoziiert mit Kauen/Schlucken oder intestinaler Aktivität
  • Mittel zur Anregung der Speichelproduktion bei Xerostomie
  • Antisekretorische Mittel zur Verringerung der übermässigen Speichelproduktion oder des Erbrechens bei gestörtem Darmtransport
  • Hemmstoffe der Magensäuresekretion und andere Substanzen zum Schutz vor symptomatischen Schleimhautläsionen oder Ösophagusreflux
  • Mittel zur Aufrechterhaltung oder Normalisierung der Darmmotilität und zur Behandlung/Vermeidung von Obstipation oder Diarrhöe
  • Antidepressiva, Anxiolytika, Stimmungsmodulatoren
  • Bauchspeicheldrüsenenzyme
  • Weitere Empfehlungen, falls indiziert (Evidenz gering) [1-3]
    • Kortikosteroide zur Appetitsteigerung bei anorektischen Patient:innen mit fortgeschrittener Erkrankung für eine beschränkte Zeitspanne (1-3 Wochen). CAVE unerwünschte Nebenwirkungen wie z. B. Muskelabbau, Insulinresistenz, Infekte.
    • Gestagene zur Appetit- und Gewichtsteigerung (nicht fettfreie Masse) bei anorektischen Patient:innen mit fortgeschrittener Erkrankung. CAVE schwere unerwünschte Nebenwirkungen (z.B. Thromboembolie).
    • Langkettige N-3 Fettsäuren (2 g EPA/d) zur Stabilisierung/Steigerung des Appetits, der Nahrungszufuhr, der fettfreien Masse und des Körpergewichts bei Patient:innen mit fortgeschrittener Erkrankung unter Chemotherapie und einem Risiko für Gewichtsverlust oder manifester Mangelernährung.
    • Prokinetika bei Patient:innen mit früher Sättigung, nach Diagnose und Therapie der Obstipation. CAVE potentiell schwere unerwünschte Nebenwirkungen von Metoclopramid auf das zentrale Nervensystem und von Domperidon auf dem Herzrhythmus [8].
    • Olanzapin kann bei kachektischen Patienten antiemetisch wirken und dadurch möglicherweise den Appetit steigern und sich positiv auf das Körpergewicht auswirken [8].
  •  Nicht genügend konsistente klinische Daten, um eine Empfehlung auszusprechen
    • Cannabinoide zur Verbesserung von Geschmacksstörungen oder Anorexie.
    • Androgene Steroide zur Steigerung der Muskelmasse.
    • Verzweigtkettige/anderen Aminosäuren oder Metaboliten zur Steigerung der fettfreien Masse.
    • Probiotika zur Verringerung der strahlenbedingten Diarrhöe.
    • Glutamin
      • Zur Vorbeugung von strahleninduzierter Enteritis/Diarrhö, Stomatitis, Ösophagitis oder Hauttoxizität.
      • Zur Verbesserung des klinischen Outcomes bei Patient:innen mit Hochdosis-Chemotherapie und hämatopoetischen Stammzellentransplantation.
    • Keimarme Ernährung >30 Tage für Patient:innen nach einer allogenen Transplantation.

Enhanced recovery after surgery (ERAS)

  • Alle chirurgischen Patient:innen in einem ERAS Programm sollten in Bezug auf ein Mangelernährungsrisiko gescreent und entsprechend therapiert werden.
  • Vermeidung von Fasten, präoperatives Loading von Flüssigkeit- und Kohlenhydrate sowie orale Ernährung vom ersten postoperativen Tag an minimieren perioperative ernährungsphysiologische/ metabolische Reaktionen.
  • Die Zeit vor der Operation sollte zur "Prähabilitation" mit regelmässiger körperlicher Aktivität und Ernährungstherapie genutzt werden, insbesondere bei funktionell eingeschränkten Patient:innen mit Mangelernährungsrisiko.
  • Bei Patient:innen mit einem hohen Mangelernährungsrisiko oder einer manifesten Mangelernährung sollten Alternativen zur grossen Operation evaluiert werden.
  • Besonders gleichzeitige/aufeinanderfolgende/wiederholte Operationen, Chemotherapien und/oder Bestrahlungen bergen ein hohes Risiko für eine schrittweise Verschlechterung des Ernährungszustands. Einhaltung des ERAS-Konzeptes minimiert die ernährungsphysiologischen und metabolischen Auswirkungen solcher intensiven Therapien.
    [1-3]
  1. Arends, J., et al., ESPEN guidelines on nutrition in cancer patients. Clin Nutr, 2017. 36(1): p. 11-48. (Link NutriBib)
  2. Arends, J., et al., ESPEN expert group recommendations for action against cancer-related malnutrition. Clin Nutr, 2017. 36(5): p. 1187-1196. (Link NutriBib)
  3. Muscaritoli, M., et al., ESPEN practical guideline: Clinical Nutrition in cancer. Clin Nutr, 2021. 40(5): p. 2898-2913. (Link NutriBib
  4. Dewys, W.D., et al., Prognostic effect of weight loss prior to chemotherapy in cancer patients. Eastern Cooperative Oncology Group. Am J Med, 1980. 69(4): p. 491-7.
  5. Jang, R.W., et al., Simple prognostic model for patients with advanced cancer based on performance status. J Oncol Pract, 2014. 10(5): p. e335-41.
  6. Arends, J., et al., Klinische ernährung in der onkologie. Aktuel Ernahrungsmed, 2015. 40: p. e1-e74.
  7. Bargetzi, L., et al., Nutritional support during the hospital stay reduces mortality in patients with different types of cancers: secondary analysis of a prospective randomized trial. Ann Oncol, 2021. 32(8): p. 1025-1033.
  8. Arends, J., et al., Cancer cachexia in adult patients: ESMO Clinical Practice Guidelines(☆). ESMO Open, 2021. 6(3): p. 100092.

Autorenschaft:

Emilie Reber, PhD, Pharmazeutin/Ernährungswissenschaftlerin
Attila Kollàr, MD, Onkologe, Inselspital Bern

Information NutriGo

Anwendungsorientierte praktische Empfehlungen für die Ernährungstherapie in verschiedenen klinischen Situationen basierend auf aktuellen Richtlinien

Die Behandlung einer Mangelernährung ist ein zentraler Bestandteil in der intial- und fortführenden Therapie von Spitalpatientinnen und -patienten, um die Körperfunktion und Lebensqualität zu erhalten/verbessern und das Komplikationsrisiko bis zur Mortalität zu reduzieren. Die Therapie sollte der zugrundeliegenden Krankheit angepasst werden. NutriGo fasst die Behandlungsstrategien für verschiedene klinische Situationen zusammen und gibt praktische Hinweise zur Umsetzung.

Die Empfehlungen basieren auf den anerkannten aktuellen Richtlinien der jeweiligen klinischen Situation. Durch Eingabe des Körpergewichtes der Patientinnen und Patienten kann der Mikro- und Makronährstoffbedarf anhand einer einfachen Multiplikation berechnet werden, falls der Bedarf in den entsprechenden Richtlinien präzisiert ist. Zusätzliche Anpassungen sind erforderlich für Patientinnen und Patienten mit einem erhöhten BMI (>28 kg/m2), Aszites, Untergewicht, erhöhtem Alter und gesteigerter/reduzierter körperlicher Aktivität.

Abkürzungsverzeichnis

BMI  Body Mass Index