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Polymorbidität

Polymorbidität betrifft ca. 70% der hospitalisierten Patient:innen und wird als das gleichzeitige Vorhandensein von mindestens zwei chronischen Erkrankungen derselben Person definiert 1, 2. Polymorbidität ist dabei häufig, aber nicht zwangsläufig bei älteren Menschen zu beobachten. Mit steigender Lebenserwartung, der Zunahme chronischer Erkrankungen und dem medizinischen Fortschritt wird Polymorbidität zu einer der Hauptherausforderungen, mit der das Gesundheits- und Sozialwesen weltweit konfrontiert sein werden. Dabei geht die Polymorbidität mit einer höheren Mortalität, Morbidität, einem funktionellen Abbau, einer verschlechterten Lebensqualität und höheren Gesundheitskosten einher 2-4. Zudem steigt das Risiko für eine Mangelernährung mit der Anzahl der Erkrankungen 5, 6.

Bisher haben klinische Leitlinien zur klinischen Ernährung hauptsächlich einzelne Krankheitsbilder oder Personengruppen berücksichtigt und ihre Anwendung bei komplexen Patienten mit verschiedenen Konditionen war eine Herausforderung. Fried et al. konnte zeigen, dass Kliniker von übergreifenden Empfehlungen profitieren würden, welche sie in ihrer Entscheidungsfindung unterstützen können 7. Bisher wurde dieses Problem nicht adressiert, doch neuere, grosse Studien zeigten, dass eine Ernährungstherapie die Morbidität, Komplikationen und die Sterblichkeit von polymorbiden Patienten effektiv reduzieren und die Lebensqualität erhöhen konnte 5, 6.

Nährstoffbedarf von polymorbiden Patient:innen. Anpassungen nötig für mangelernährte Patient:innen, körperliche Aktivität und Alter der Patient:innen. Als Gewicht gilt das Adjusted Body Weight (ADJ) ab BMI 28, ansonsten Körpergewicht vor Spitaleintritt 3. KG = Körpergewicht; d = Tag; bHMB = beta-Hydroxy-beta-Methylbutyrat; EE = Enterale Ernährung

Nährstoff Täglicher Bedarf (pro kg KG)
Protein eGFR≥30ml/min/1.73m² 1.2 1.5

g/d 5, 9-11

  eGFR<30 ml/min/1.73m² 0.8

g/d 8

Energie 27

kcal/d 8

Flüssigkeit Frauen

1.6 L ** 12

  Männer

2.0** L 12

Bitte füllen Sie das Gewicht aus

Sonstiges
Bei Dekubitus

     Spez. Aminosäuren: Arginin, Glutamin bHMB 8

EE      Formeln mit löslichen und unlöslichen Ballaststoffen 8

* Unterteilung für spezifische Konditionen siehe ESPEN Guidelines für polymorbide Patienten

** entsprechend ESPEN Guidelines für geriatrische Patienten 12

Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente

  • Abdeckung Tagesbedarf
  • Substituieren von nachgewiesenen oder vermuteten Mangelzuständen

Ziele der Ernährungstherapie

  • Aufrechterhaltung/Verbesserung Ernährungszustand und Körperfunktion
  • Vermeidung Mangelernährung/Nährstoffdefiziten
  • Erhalten der Muskelmasse und der Funktionalität
  • Verbesserung der Lebensqualität
  • Reduktion der Sterblichkeit, Komplikationsrate und Spitalwiedereintritte

Um mangelernährte Patient:innen frühzeitig zu erkennen, sollte ein Screening auf Mangelernährung mit einem validierten Tool, wie beispielsweise dem Nutritional Risk Screening (NRS) innerhalb von 48 Stunden nach Spitaleintritt durchgeführt werden.

Der Energie- und Proteinbedarf sollte, wenn immer möglich, durch orale Ernährung gedeckt werden. Falls auch mit Anreicherung, Zwischenmahlzeiten oder Trinknahrungen weniger als 75% des Bedarfs gedeckt werden, sollte auf eine ergänzende enterale Ernährung eskaliert werden. Eine parenterale Ernährung ist indiziert, wenn weniger als 75% des Bedarfes durch orale und/oder enterale Ernährung gedeckt werden.

Orale Ernährung

Bei mangelernährten, polymorbiden Patient:innen oder solchen mit einem hohen Risiko für eine Mangelernährung, welche oral ernährt werden können, sollte eine frühe individuelle Bereitstellung von Ernährungstherapie durch orale Nahrungsergänzungsmittel (ONS) angeboten werden, um ihren Ernährungszustand, die Lebensqualität und das Gesamtüberleben kosteneffektiv zu verbessern. Auch die Anreicherung von Lebensmitteln kann als wirksames Mittel neben oder anstatt von ONS angesehen werden, um die entsprechenden Energie- und Proteinziele zu erreichen und die Nährstoffaufnahme zu verbessern. 8

Enterale und parenterale Ernährung

Bei Patient:innen, die enterale Ernährung benötigen, sollten Produkte mit löslichen und unlöslichen Ballaststoffen verwendet werden, um die Darmfunktion zu verbessern. Die enterale ist der parenteralen Ernährung aufgrund von infektiösen und nicht-infektiösen Komplikationen sowie zur Aufrechterhaltung der Darmintegrität überlegen. 8

Monitoring

Es sollten ernährungsphysiologische und funktionelle Parameter überwacht werden, um die Reaktionen auf die Ernährungstherapie zu bewerten. Ein möglicher solcher Parameter mit prognostischem Potential ist die Faustschlusskraft. 8

Besonderes

Die Ernährungstherapie sollte nach der Entlassung aus dem Krankenhaus fortgesetzt werden, um das Körpergewicht, den Ernährungsstatus, den funktionellen Status und die Lebensqualität zu erhalten oder zu verbessern. Insbesondere bei über 65-Jährigen sollte diese Fortsetzung der Unterstützung länger als zwei Monate betragen. 8

Medikamente/Supplemente

Die Polymorbidität geht immer mit einer Polypharmazie einher und daher besteht bei polymorbiden Patient:innen ein erhebliches Risiko für Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und auch zwischen Arzneimitteln und Nährstoffen. Daher ist es wichtig, für solche Interaktionen einen Managementplan mit Einbezug eines Apothekers zu erstellen. 8

  1. Lefevre, T., et al., What do we mean by multimorbidity? An analysis of the literature on multimorbidity measures, associated factors, and impact on health services organization. Rev Epidemiol Sante Publique, 2014. 62(5): p. 305-14.
  2. Marengoni, A., et al., Aging with multimorbidity: a systematic review of the literature. Ageing Res Rev, 2011. 10(4): p. 430-9.
  3. Charlson, M.E., et al., Charlson Comorbidity Index: A Critical Review of Clinimetric Properties. Psychother Psychosom, 2022. 91(1): p. 8-35.
  4. Huntley, A.L., et al., Measures of multimorbidity and morbidity burden for use in primary care and community settings: a systematic review and guide. Ann Fam Med, 2012. 10(2): p. 134-41.
  5. Schuetz, P., et al., Individualised nutritional support in medical inpatients at nutritional risk: a randomised clinical trial. Lancet, 2019. 393(10188): p. 2312-2321.
  6. Deutz, N.E., et al., Readmission and mortality in malnourished, older, hospitalized adults treated with a specialized oral nutritional supplement: A randomized clinical trial. Clin Nutr, 2016. 35(1): p. 18-26.
  7. Fried, T.R., M.E. Tinetti, and L. Iannone, Primary care clinicians' experiences with treatment decision making for older persons with multiple conditions. Archives of Internal Medicine, 2011. 171(1): p. 75-80.
  8. Wunderle, C., et al., ESPEN guideline on nutritional support for polymorbid medical inpatients. Clin Nutr, 2023. 42(9): p. 1545-1568.
  9. Gomes, F., et al., ESPEN guidelines on nutritional support for polymorbid internal medicine patients. Clin Nutr, 2018. 37(1): p. 336-353
  10. Kaegi-Braun, N., et al., Six-month outcomes after individualized nutritional support during the hospital stay in medical patients at nutritional risk: Secondary analysis of a prospective randomized trial. Clin Nutr, 2021. 40(3): p. 812-819.
  11. Schuetz, P., et al., Economic evaluation of individualized nutritional support in medical inpatients: Secondary analysis of the EFFORT trial. Clin Nutr, 2020. 39(11): p. 3361-3368.
  12. Volkert, D., et al., ESPEN practical guideline: Clinical nutrition and hydration in geriatrics. Clin Nutr, 2022. 41(4): p. 958-989.

Autorenschaft:

Carla Wunderle, PhD, Ernährungswissenschaftlerin, Kantonsspital Aarau

Information NutriGo

Anwendungsorientierte praktische Empfehlungen für die Ernährungstherapie in verschiedenen klinischen Situationen basierend auf aktuellen Richtlinien

Die Behandlung einer Mangelernährung ist ein zentraler Bestandteil in der intial- und fortführenden Therapie von Spitalpatientinnen und -patienten, um die Körperfunktion und Lebensqualität zu erhalten/verbessern und das Komplikationsrisiko bis zur Mortalität zu reduzieren. Die Therapie sollte der zugrundeliegenden Krankheit angepasst werden. NutriGo fasst die Behandlungsstrategien für verschiedene klinische Situationen zusammen und gibt praktische Hinweise zur Umsetzung.

Die Empfehlungen basieren auf den anerkannten aktuellen Richtlinien der jeweiligen klinischen Situation. Durch Eingabe des Körpergewichtes der Patientinnen und Patienten kann der Mikro- und Makronährstoffbedarf anhand einer einfachen Multiplikation berechnet werden, falls der Bedarf in den entsprechenden Richtlinien präzisiert ist. Zusätzliche Anpassungen sind erforderlich für Patientinnen und Patienten mit einem erhöhten BMI (>28 kg/m2), Aszites, Untergewicht, erhöhtem Alter und gesteigerter/reduzierter körperlicher Aktivität.

Abkürzungsverzeichnis

BMI  Body Mass Index